Interview – Susanne Gerull

Folgen Sie mit uns der neuen und spannenden Rubrik „Interview“. Wir sprechen mit Expertinnen und Experten, um verschiedenste Hintergründe zu erfahren und Familien noch besser erreichen zu können. Lassen Sie sich inspirieren!

Frau Prof. Dr. Gerull, staatliche Leistungen, vor allem für Familien und Kinder, werden häufig nicht in Anspruch genommen. In dieser Ausgabe stellen wir uns die Frage, wie Familien besser erreicht werden können. Kennen alle Familien ihr persönliches Armutsrisiko? Wenn nein, was sind die Folgen?

Susanne Gerull: Familien, die sich in eher prekären und ungesicherten Lebenssituationen befinden, müssen oft kurzfristig entscheiden, wofür sie ihr Geld ausgeben können bzw. müssen: Die Miete ist fällig, die Windeln sind alle, die Große braucht dringend neue Turnschuhe. Eine langfristige Planung ist ihnen oft gar nicht möglich. Die statistisch festgelegte bzw. behördliche Einstufung ihres persönlichen Armutsrisikos kennen die wenigsten Familien: Steht ihnen weniger als 60 % des regionalen oder nationalen Durchschnittseinkommens zur Verfügung? Könnten sie vielleicht aufstockende Leistungen beim Jobcenter oder Wohngeld beantragen? Und selbst wenn sie es kennen würden, hat es oft nichts mit ihrer individuellen und realen Lebenssituation zu tun, die sich ja nicht in statistischen Modellen und Berechnungen abbilden lässt.

Welche Auswirkungen hat das Armutsrisiko auf die Kinder?

Susanne Gerull: Armut wirkt sich auf alle davon betroffenen Menschen aus, dabei ist zu unterscheiden, ob wir nur über monetäre Armut sprechen oder ganzheitlich auf alle Lebenslagenbereiche schauen: Vielleicht liegt eine Familie über den Schwellen von Einkommensarmut oder den Anspruchsgrenzen für Bürgergeld oder Sozialhilfe, lebt aber in beengten Wohnverhältnissen und kämpft mit gesundheitlichen Belastungen einzelner Familienmitglieder. Kinder haben oft eine gute Antenne dafür, ob es ihren Eltern gut geht. Sie fühlen sich verantwortlich und wollen sie unterstützen.

Sind die Folgen für Kinder abzusehen?

Susanne Gerull: Sie stecken häufig eigene Ansprüche zurück, erleben aber gleichzeitig Ausgrenzung bis hin zu Mobbing, wenn ihr Taschengeld nicht für die Eisdiele nach der Schule reicht oder die Schuhe aus dem Discounter stammen. Dieses Dilemma kann Kinder regelrecht zerreißen. Haben sie das Gefühl, dass sie etwas zur Überwindung der familiären Notlage beitragen können, erleben sie auf der anderen Seite das, was die Psychologie Selbstwirksamkeit nennt: Ich bin kein Opfer, ich kann etwas bewirken. Und wenn es nur der Verzicht auf einen Teil des Taschengelds ist, damit auch am letzten Tag vor der Lohnzahlung eines Elternteils das Abendessen gesichert ist.

Sind alle Familien in der Lage, eigenverantwortlich nach Lösungen oder Hilfen zu suchen (Holschuld)? Welche Rolle haben Behörden und Netzwerke (Bringschuld)?

Susanne Gerull: Nicht nur von multiplen Problemlagen überforderte Familien haben Schwierigkeiten, sich durch das Gestrüpp von Hilfeangeboten zu kämpfen: Was steht uns zu, wo und wie müssen wir das beantragen, wer könnte uns dabei unterstützen? Sind sie dreimal abgewiesen worden, weil ein anderes Amt zuständig ist, Unterlagen fehlen oder sie ihr Anliegen aufgrund von Sprachbarrieren erst gar nicht vorbringen können, geben Familien oft auf und versuchen, irgendwie selbst über die Runden zu kommen. Behörden tun sich zudem oft schwer, ihre Angebote und Anspruchsvoraussetzungen in leichter Sprache zu kommunizieren. Wer den Habitus und die Codes der Mittelschicht nicht beherrscht, erlebt dann manchmal auch bei denjenigen Ausgrenzung und Stigmatisierung, die eigentlich ein Unterstützungsangebot machen sollten. Das beschämt die Betroffenen und führt teilweise zum inneren Rückzug.

Fehlendes Problembewusstsein oder Schamgefühl? Was sagen Sie Familien, die Unterstützung brauchen, aber nicht in Anspruch nehmen wollen?

Auf Sozialleistungen, aber auch pädagogische und sozialarbeiterische Unterstützung besteht in vielen Fällen ein Anspruch, geregelt über die Sozialgesetzbücher. Im Grundgesetz verankert ist zudem der besondere Schutz der Familie. Ich würde daher den betroffenen Familien sagen, dass sie keine Bittstellenden sind, sondern ein Recht auf Hilfe haben. Dass sie mit geradem Rücken ihre Anträge stellen können und die Behörden eine Beratungspflicht haben. Entscheiden sie sich trotzdem, beispielsweise auf aufstockende Sozialleistungen zu verzichten, weil sie sich erst dadurch wirklich arm fühlen würden, muss das aber meines Erachtens akzeptiert werden, wenn das Kindeswohl dadurch nicht gefährdet ist.

Familien haben oft eine Bewältigungsstrategie entwickelt. Muss oder kann eine solche Strategie durchbrochen werden?

Susanne Gerull: Bewältigungsstrategien können konstruktiv oder destruktiv sein. Als Beraterin würde ich meine Aufgabe nicht darin sehen, diese zu bewerten, sondern alle Handlungsoptionen mit ihren jeweiligen Konsequenzen darzulegen, um den Familien eine informierte Entscheidung zu ermöglichen. Das Angebot der Unterstützung muss auch dann aufrechterhalten werden, wenn der in meinen Augen falsche Weg gewählt wurde.

Frau Prof. Dr. Gerull, vielen Dank für das Gespräch.
 

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