„Etwas Mut von beiden Seiten“

Der demographische Wandel sorgt für einen immer stärkeren Fachkräfteman-gel. Und gerade beim betrieblichen Nachwuchs wird die Suche für die Arbeit-geber immer schwieriger. Hier kommen im Juni in Bielefeld auf 100 freie Aus-bildungsstellen nur 92 Bewerberinnen und Bewerber. Deshalb wird es für die Arbeitgeber immer wichtiger, auch mal abseits der bekannten Ausbildungs-wege zu suchen und bisher nicht genutzte Potenziale zu entdecken und zu fördern – so wie die Kanzlei Wruck & Wagner im Bielefelder Osten.

30.06.2022 | Presseinfo Nr. 61

„Wir standen in unserer kleinen Kanzlei mit zwei Rechtsanwälten und vier Beschäftigten vor der großen Herausforderung, dass meine Assistentin und ich in zwei bis drei Jahren zeitgleich in Rente gehen“, erklärt Joachim Wagner, Fachanwalt für Arbeitsrecht. Seine Nachfolge ist bereits durch seinen Sohn gesichert, doch das Wissen, das die Kollegin in 25 Jahren als Rechtsanwaltsfachangestellte hier erworben hat, drohte verloren zu gehen. Durch einen Zufall lernte Wagner dann Sabine Hartmann kennen.

Die 55-Jährige hatte 1983 eine Ausbildung als Apothekenhelferin abgeschlossen, hat danach aber in ganz unterschiedlichen Jobs gearbeitet. So war sie etwa im Beschwerdemanagement eines Postdienstleisters tätig, zuletzt arbeitete sie als Reinigungskraft und Alltagshelferin für ältere Menschen. „Ich habe seit meiner Ausbildung immer wieder die Jobs gewechselt, bin nie richtig angekommen und auch zweimal länger erkrankt. Die Lücken im Lebenslauf haben es für mich auf dem Arbeitsmarkt dann auch nicht einfacher gemacht“, resümiert Hartmann. Die Chemie stimmte von Anfang an und so hatte Wagner die Idee mit Sabine Hartmann die Nachfolgeprobleme der Kanzlei zu lösen. „Doch mit Mitte 50 noch einmal neu zu beginnen, dafür brauchte ich Mut“, so die heutige Auszubildende. „Und nicht nur ich“, sagt sie schmunzelnd mit Blick auf ihren Chef. „Auch, wenn es meine Idee war, musste ich als Arbeitgeber zunächst noch eine Nacht darüber schlafen, eine weitere Beschäftigte einzustellen“, gibt Wagner zu. „Doch ich bin froh, dass wir beide den Mut hatten“.

Doch dieser war nicht allein vonnöten: „Von der Ausbildungsvergütung als Rechtsanwaltsfachangestellte hätte ich meine aktuelle Lebenssituation nicht finanzieren können“, berichtet Sabine Hartmann. Deshalb suchte ihr zukünftiger Chef den Kontakt zum Arbeitgeberservice der Agentur für Arbeit Bielefeld. „Ich habe die Lage geschildert und gemeinsam haben wir eine Lösung gesucht“, so Wagner. Die Lösung heißt Qualifizierungschancengesetz. „Hier werden entweder gelernte Fachkräfte bei einer Weiterbildung oder ungelernte Kräfte bei einem Berufsabschluss gefördert“, erklärt Günter Michaelis, operativer Geschäftsführer und stellv. Leiter der Arbeitsagentur Bielefeld. Dabei können abhängig von der Betriebsgröße die Lehrgangskosten in Teilen übernommen werden. Zusätzlich erhalten die Arbeitsgeber einen Zuschuss zum Arbeitsentgelt der Arbeitsnehmer. Als ungelernt gilt dabei auch, wer mehr als vier Jahre nicht im erlernten Beruf gearbeitet hat – wie Sabine Hartmann. Sie erhält nun das normale Gehalt einer Berufsanfängerin in ihrem Ausbildungsberuf und 80 Prozent davon wird durch die Arbeitsagentur getragen. „Eine Förderung bei ungelernten Arbeitskräften ist sogar bis zu 100 Prozent möglich, bei gelernten Fachkräften ist die Höhe der Förderung unter anderem abhängig von der Betriebsgröße“, so Michaelis. Hier sei aber auch wichtig, dass der Weiterbildungsbedarf begründet ist, etwa wenn der Arbeitsplatz aufgrund des (digitalen) Strukturwandels sich verändert. Fragen hierzu beantwortetet der Arbeitgeberservice der Arbeitsagentur unter 0800 4555520.

Am 1. Januar 2021 ging es dann für Sabine Hartmann los, ihre Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellte startete. Und dies bedeutete auch: Nach 30 Jahren wieder gemeinsam mit 20-Jährigen zwei Vormittage die Woche die Schulbank drücken. Das sei schon herausfordernd gewesen, gibt sie zu. Aber sie hat zum Glück noch eine weitere gleichaltrige Klassenkameradin. „Der Altersunterschied zu den Mitschülern ist kein Problem, wir verstehen uns alle gut“, so die 55-Jährige. Der schulische Schwerpunkt liegt auf der Rechtskunde und den anwaltlichen Geschäftsprozessen. „Hier geht es um die Rechtsanwendung und deren Umsetzung in der Praxis“. Das hat am wenigsten mit meinen bisherigen Berufserfahrungen zu tun und deshalb finde ich es wohl auch am spannendsten“, meint Hartmann. Und gebrauchen kann sie das in der Kanzlei eigentlich jeden Tag. „Wir haben uns auf die langfristige Begleitung von Mandanten in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten spezialisiert, die oft in einem langjährigen Vertrauensverhältnis zu unserer Kanzlei stehen. Daher ist auch im Bereich des Sekretariats ein enger Kontakt zu unserer Mandantschaft noch wichtiger, als dies in anderen Kanzleien der Fall ist. Dass wir nun mit Unterstützung der Arbeitsagentur diese individuelle Lösung nutzen können und einen guten Übergang innerhalb der Kanzlei ermöglicht haben, ist für uns großartig“, findet Joachim Wagner. Und auch Sabine Hartmann wirkt zufrieden: „Ich habe den Luxus, eine individuelle Ausbildung in einem harmonischen Umfeld zu bekommen.“ Und die gute Stimmung in der Kanzlei ist tatsächlich sichtbar. „Wir sind ja auch altersmäßig nicht so weit auseinander“, scherzt der Chef.