Man darf nie aufgeben

Dass an diesem kühlen Montagmorgen die Regenwolken tief hängen, der Himmel grau ist und die Sonne sich seit Tagen nicht gezeigt hat, ist ihr beinahe egal: Kim Sophie Hoffmann. Und obwohl auch sie die nasse Kälte spürt und nach einem dienstfreien Wochenende wie jeder Anlauf auf den beruflichen Alltag nehmen muss, erscheint sie gut gelaunt zum Termin in ihrem schwarzen Business-Anzug und hat sich Eines vorgenommen: Mut zu machen. Ohne Luftschlösser zu bauen, das ist ihr ganz wichtig. Aber dennoch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen einen realistischen Weg zu skizzieren.

12.03.2024 | Presseinfo Nr. 22

Die 29-jährige Kim hat in ihrem Leben bereits einige Hürden genommen und dabei tiefe Täler durchschritten. Von Geburt an leidet sie unter einem genetischen Defekt, der dazu führen kann, dass sie irgendwann ihre Sehfähigkeit gänzlich verlieren wird. Sehbeeinträchtigt ist Kim seit ihrer Geburt, aber die Einschränkungen schreiten weiter merklich fort. Im Alter von 17 Jahren war so ein einschneidender Wendepunkt. Sie erhält den Status gesetzlich blind. Immer wieder führen Schübe ihrer fortschreitenden Krankheit dazu, dass sich die Sehfähigkeit verschlechtert. Seit 2012 benutzt sie daher einen Blindenstock. Kim war gefordert, wie sie selbst erzählt, sich dieser Situation zu stellen, sie anzunehmen und hat dabei oft gefühlt, wie sie an ihre Grenzen kam. Das Akzeptieren fiel ihr schwer, auch wenn sie sich heute kämpferisch zeigt: „In einem gemeinsamen Gespräch mit der Agentur für Arbeit, dem Integrationsfachdienst und dem Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland habe ich gemerkt, dass ich mir immer mehr vorlesen lasse, statt selbst zu lesen“, bewertet sie ihr damaliges Handling der fortschreitenden Sehminderung. Lange hat Kim versucht mit Hilfe der Verwendung von Vergrößerungssoftware zu arbeiten. Jetzt war die Notwendigkeit gekommen, die Braille-Schrift zu lernen und die Bedienung von gängigen Office-Produkten mittels Tastaturbefehlen. Sie wollte sich aktiv vorzubereiten auf das weitere Voranschreiten ihres Krankheitsbildes und zugleich ihre Arbeitsfähigkeit erhalten. Geholfen hat ihr, dass betont sie über das gesamte Gespräch hinweg, ihre Familie: „Meine Familie stand zu 100 Prozent hinter mir. Sie haben mich nie bevormundet und immer respektiert, dass dies mein Lebensweg ist, mit meinen Entscheidungen.“ Mit diesem unverzichtbaren Rückhalt und ihrer eigenen Entschlusskraft hat sich Kim dann gerüstet für die Zukunft als Blinde. Einer regulären Beschäftigung nachzugehen, in der Mitte der Erwerbsgesellschaft fest ihren Platz einzunehmen, war für sie ein völlig selbstverständliches Lebensziel. 

Bereits im Sommer 2018 hatte sie ihre Ausbildung zur Fachpraktikerin für Bürokommunikation beim Berufsbildungswerk des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Soest absolviert. Als qualifizierte Fachkraft hat Kim sich in der Folge den Unternehmen in der Region präsentiert – erfolglos. Am meisten hat sie geärgert, so sagt sie heute, dass sie keine Chance hatte sich in mit ihrer Power zu präsentieren und Arbeitgeber von sich zu überzeugen. Gemeinsam mit Patrick Böttger, Qualifizierungstrainer beim Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland (CJD) in Siegen und langjähriger Wegbegleiter, hat Kim die Öffentlichkeit gesucht. In einem Presseartikel in einer lokalen Tageszeitung hat sie einen Aufruf gestartet und mutig Arbeitgeber aufgefordert, ihr eine Chance zu geben - mit Erfolg. Exakt ein Arbeitgeber hat Kim Perspektive geboten und sie in die Mitte der Belegschaft geholt. 

Seit Anfang Januar 2023 unterstützt Kim die Personalsachbearbeitung bei der Stadt Siegen und übernimmt hier in voller Verantwortung und gleichwertig zu den Kolleginnen und Kollegen ihren Aufgabenbereich. Sie gilt als motiviert, zuverlässig und ehrgeizig. Einzig der Cyberangriff im vergangenen Oktober auf die kommunale IT hat sie etwas in ihrer Entwicklung ausgebremst, da angemessene IT-Lösungen für ihre Bedürfnisse noch auf dem Weg sind.  
Die umfangreiche und möglichst barrierearme technische Ausgestaltung ihres Arbeitsplatzes hat die Agentur für Arbeit Siegen übernommen. Andrea Reschke-Frank, Beraterin Berufliche Rehabilitation und Teilhabe bei der Siegener Arbeitsagentur und lange an Kims Seite, erklärt: „Von der umfangreichen Arbeitsplatzausstattung, der Übernahme von Beförderungskosten bis hin zu besonderen Zusatzförderungen wie etwa dem Jobcoaching, sorgen wir dafür, dass beeinträchtigte Menschen wie Kim am Arbeitsplatz weitestgehend ohne Einschränkungen ihre Tätigkeit verrichten könne. Mittels hochmoderner Technik ist es möglich, den Weg zur echten beruflichen Teilhabe, wie bei Kim, zu bereiten. Wir schauen hin, was individuell geregelt werden muss. Dabei gehen wir ganzheitlich vor. Wir holen uns Rat von Fachleuten wie beispielsweise den technischen Beratungsdiensten der Agentur für Arbeit und überörtlich vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Gleichzeitig arbeiten wir eng mit wichtigen Netzwerkpartnern wie Maßnahme- und Bildungsträgern und beteiligten sozialen Einrichtungen zusammen, damit Menschen mit Behinderung eine langfristige berufliche Perspektive bekommen und dauerhaft eingegliedert werden können. Wir sind erste Ansprechpartnerin für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die aufgrund eines hohen Informationsbedarfes verunsichert sind und klären diese gerne umfangreich über die möglichen Hilfen bei der Einstellung von beeinträchtigten Menschen auf.“ Kim bestätigt dieses Engagement: „Die Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit lief immer reibungslos. Ich habe sehr viel Unterstützung erfahren. Die Gespräche dort haben mir neben der Unterstützung und Begleitung bei Qualifizierungsvorhaben auch immer die Augen geöffnet, was alles geht. Wir haben viel reflektiert, teils auch kritisch diskutiert. Das hat mir geholfen meinen Weg zu finden.“ 

Um Kim den Weg zur Arbeit zu erleichtern wurde auch in Sachen Infrastruktur die ein oder andere Barriere beseitigt. Eine Ampel wurde mit einem akustischen Signalgeber für Grünphasen ausgestattet und sogenannte Aufmerksamkeitsfelder, besonders gestaltete Gehwegplatten die Sehbeeinträchtigte mit ihrem Blindenstock erspüren, wurden als Wegweiser, in den Asphalt eingelassen. Was viele nicht wissen: Die Stadt Siegen unterstützt den barrierearmen Ausbau da wo er konform ist mit der Straßenverkehrsordnung. Eine Anfrage bei der Abteilung 4/1 - Straße und Verkehr oder der Beauftragten für Menschen mit Behinderung reicht aus, um eine Prüfung zu veranlassen. 
Warum entscheiden sich aber immer noch viel zu wenig Unternehmen dafür die Inklusion von Menschen mit Behinderung voranzutreiben und zahlen stattdessen etwa die Ausgleichsabgabe, wenn sie ihre gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungspflichten nicht erfüllen? Hierzu vermutet Dirk Helmes, Personalamtsleiter bei der Stadt Siegen: „Es mangelt an Transparenz. Wir haben sehr positive Erfahrung gemacht mit der Aufnahme von Kim. Wir waren auch skeptisch, was die besonderen Anforderungen an die Arbeitsplatzausgestaltung betrifft. Was kommt da auf uns zu? Dass es dann so einfach ist, hat uns positiv überrascht. Wichtig ist Arbeitgebern vor allem, dass sie den Dingen nicht hinterherlaufen müssen oder sich überbordender Bürokratie ausgesetzt sehen. Dazu haben die keine Zeit. Hier hat die Agentur für Arbeit uns maßgeblich entlastet. Und natürlich Kim selbst.“
Hierzu ergänzt Michaela Welticke, Arbeitsgruppenleiterin bei der Stadt Siegen als Kims direkte Vorgesetzte, was von Seiten der Beeinträchtigten sehr hilfreich ist: „Kim hat es uns leicht gemacht. Sie hat klar kommuniziert, was sie braucht. Mit ihr sind erst gar keine Berührungsängste entstanden, weil sie sehr offen über ihre Einschränkungen gesprochen hat. Das hat es allen erleichtert.“ Kim selbst sieht das ganz pragmatisch: „Ich habe lernen müssen offen zu sein. Ich habe gelernt zu sagen: Ich habe diese Erkrankung, daraus resultierend diese Einschränkungen. Das geht - das geht nicht.“ Kim empfiehlt anderen in vergleichbarer Situation daher: „Offenheit und Zuversicht bringen euch enorm voran. Bleibt beharrlich, lasst euch nicht unterkriegen.“ 
Nur bei einer Frage verlässt Kim, für einen kurzen Augenblick, ihre gewohnte Zuversicht. Ob es etwas gibt, was sie den Kopf in den Sand stecken lässt? „Ja das gibt es. Das wird der Moment sein, wenn die vollständige Blindheit einsetzt. Das wird nochmal einen Tiefpunkt für mich bedeuten. Da werde ich Rückhalt brauchen und Zeit dies zu akzeptieren. Aber auch dann bin ich mir sicher, werde ich mich schnell an mein eigenes Credo erinnern: Man darf nie aufgeben. Einfach weitermachen.“ Keiner der Anwesenden hat hieran Zweifel.  


Kontakt zur Reha-Beratung der Agentur für Arbeit Siegen:
Montag bis Freitag, 8-18 Uhr unter der kostenfreien Servicenummer 0800 4 555500 oder online unter www.arbeitsagentur.de/menschen-mit-behinderungen

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Montag bis Freitag, 8-18 Uhr unter der kostenfreien Servicenummer 0800-4 5555 20 oder online unter www.arbeitsagentur.de/unternehmen/arbeitgeber-Service