Ein Update für den Mittelstand

Die neue Initiative New Mittelstand will die zwei Welten Mittelstand und Start-ups verknüpfen. Initiator Evgeni Kouris und Zukunftsforscherin Aileen Moeck sprechen darüber im Interview.


08.09.2021 - Christian Schön -7 MinutenArbeitswelt gestalten

Zuletzt aktualisiert: 06.06.2023

Die neue Initiative New Mittelstand will die zwei Welten Mittelstand und Start-ups verknüpfen, damit kleine und mittelständische Unternehmen für Herausforderungen von Digitalisierung bis Fachkräftemangel gerüstet sind. Initiator Evgeni Kouris und Zukunftsforscherin Aileen Moeck sprechen darüber im Interview.

Social Media Post New Mittelstand
Dieser Post von Evgeni Kouris markierte den Startpunkt von „New Mittelstand“.

Kaum etwas ist so kennzeichnend für den Mittelstand wie das Denken und Handeln in einer Abfolge von Generationen. Oft handelt es sich bei Mittelständlern um Familienunternehmen, bei denen die Geschäftsführung von einer in die nächste Generation weitergegeben wird. Das macht den Mittelstand stabil und liefert zugleich den Grund für die tiefe regionale Verankerung der Unternehmen. Das macht die kleinen und mittelständischen Unternehmen teilweise aber auch träge, wenn es um Innovationen und Veränderung geht. Oft ist der Generationenwechsel der Moment, in dem etwas Neues ausprobiert und etabliert wird. In einer Welt, in der die Innovationszyklen immer kürzer werden, ist das ein Problem. Denn junge Talente gehen häufig eher zu innovativen Start-ups oder Konzernen mit Innovationslabs als zu unbekannten mittelständischen Unternehmen, die fernab der Ballungszentren liegen.

Die Herausforderungen für den Mittelstand enden hier nicht. Neben der technologischen Transformation entwickelt sich Nachhaltigkeit zur neuen Basis des Wirtschaftens. Der tiefgreifende, strukturelle Wandel wird auch spürbar, wenn es um die Frage der Unternehmensnachfolge geht. Laut dem Institut für Mittelstandsforschung entscheidet sich bei familiengeführten Unternehmen die Nachfolgegeneration in rund der Hälfte der Fälle für einen anderen Weg, als in die Fußstapfen der Eltern zu treten.

Für den Unternehmer Evgeni Kouris war die Begegnung mit dem Mittelstand etwas ganz Besonderes. Nachdem Kouris selbst sowohl als Berater Erfahrung mit der Welt der großen Konzerne gemacht hatte als auch als Start-up-Gründer eines Technologie-Unternehmens mit der Logik der Wagniskapitalgeber, war für ihn ein Wendepunkt gekommen. Denn obwohl seine Begeisterung für Technologie und Innovationen ungebrochen ist, fehlte ihm in vielen Projekten und in der Art der Wagniskapitalfinanzierung der tiefere Sinn. Kouris hat aus diesem Grund die Initiative New Mittelstand ins Leben gerufen.

Dabei begann alles mit einem Post bei LinkedIn. Darin beschrieb er seine Vision von der Zukunft des Mittelstandes und der deutschen Wirtschaft. Darüber hinaus ging es um das Potenzial, das im Mittelstand steckt, und um mögliche Wege, wie dieses Potenzial realisiert werden kann. Dieser Post brachte etwas ins Rollen, das dann in die Gründung der Transformationsinitiative New Mittelstand mündete. Wir haben Evgeni Kouris und die Zukunftsforscherin, Unternehmerin und New-Mittelstand-Botschafterin Aileen Moeck zum Gespräch gebeten.

Faktor A: Was genau ist New Mittelstand?

Evgeni Kouris: New Mittelstand ist ein neues Unternehmensleitbild für Deutschland und Europa. Es ist ein Ideal, wonach Unternehmen nach unserer Meinung streben sollten. Denn wir brauchen keine Kopie vom Silicon Valley oder einer Ökonomie, wie es sie in Asien gibt. Als Organisation machen wir drei Dinge, um dieses Ideal zu erreichen: erstens Inspiration in Form einer Community, um zu zeigen, dass es die New Mittelständler schon gibt. Das inspiriert viele, diesem Ideal zu folgen. Zweitens transformieren wir, indem wir aktiv sind und Unternehmen auf sehr unterschiedliche und individuelle Art unterstützen. Das machen wir mit unseren Co-Pilotinnen und Co-Piloten, die mit ihrer Expertise und unternehmerischen Erfahrung die Transformation begleiten. Und drittens versuchen wir Kollaboration zu fördern. Dafür haben wir verschiedene Arbeitskreise und Initiativen für Mittelständler, die gemeinsam anfangen, etwas umzusetzen.

Evgeni Kouris Mann schwarz weiß
© Evgeni Kouris - Evengi Kouris

Aileen Moeck: Wir sind eine Transformationsinitiative, die aus vielen Köpfen und Organisationen besteht. Gemeinsam arbeiten wir an neuen Werten und neuen Arbeitsweisen für den Mittelstand. Unser Ziel ist, die New-Mittelstand-Economy zu erreichen: eine neue, nachhaltige Sinnwirtschaft. Wir sind in Deutschland und auch in Europa sehr stark vom Mittelstand abhängig. Genau darum muss es dem Mittelstand gut gehen.

Was kann man sich unter dem Begriff der Co-Pilotin, des Co-Piloten vorstellen?

Evgeni Kouris: Wir suchen nach positiven Beispielen einer neuen Wirtschaft. Dazu kreieren wir Leitbilder wie das vom New Mittelstand. Daneben braucht es aber noch zwei weitere Leitbilder. Co-Pilotinnen und Co-Piloten beraten unternehmerisch und begleiten Transformation. Wir nennen sie bewusst nicht Beraterinnen und Berater, um zu unterstreichen, dass sie quasi in einem Unternehmen „mitfliegen“ und dieses über einen bestimmten Zeitraum begleiten. Das heißt, sie übernehmen durchaus für gewisse Zeit Verantwortung für Transformation oder Pilotprojekte. Wir sind der Überzeugung, dass es gerade beim Mittelstand einen sehr individuellen Ansatz braucht und es keinen standardisierten Ansatz geben kann. Dafür haben wir eine kuratierte Community von erfahrenen Unternehmerinnen und Unternehmern und Expertinnen und Experten aufgebaut, die wir als Co-Pilotinnen und Co-Piloten vermitteln können. 

Neben dem Co-Pilot gibt es einen weiteren Begriff, der im Zusammenhang mit der New-Mittelstand-Initiative auftaucht und erklärungsbedürftig ist: der des Zebras bzw. Zebra-Start-ups. Worum handelt es sich dabei?

Evgeni Kouris: Darunter verstehen wir ein sinnvolles Start-up. Im Gegensatz zu den sogenannten Einhorn- bzw. Unicorn-Start-ups sind Zebra-Start-ups nicht auf schnelles Wachstum aus, sondern auf ein impactgetriebenes Wachstum ausgerichtet. Es geht nicht darum, schnell zu skalieren und schnell zu verkaufen. Zebras sind vielmehr Start-ups, die vielleicht selbst mal ein mittelständisches Unternehmen werden – ein Brückenschlag zwischen Start-ups und Mittelstand.

Noch einmal zurück zur Vision von der New-Mittelstand-Economy. Was hat es damit auf sich?

Aileen Moeck: Wir sprechen hier von der Sinnwirtschaft. Für diese ist der Mittelstand, wie wir ihn uns vorstellen, zentral. Denn wir sind davon überzeugt, dass gutes wirtschaftliches Handeln immer auch etwas mit Verantwortung und ethischen Wertvorstellungen zu tun hat. Für uns hat die Wirtschaft eine gesamtgesellschaftliche Relevanz. Auf einer ganz individuellen Ebene zählen Fragen wie „Warum bin ich in einem Unternehmen?“, „Wie kann ich mich weiterentwickeln?“ oder „Was ist mein Mehrwert?“

Aileen Moeck Frau auf Straße
© Sophia Lukasch/femtastics - Aileen Moeck

Evgeni Kouris: Wenn man beispielsweise über die Digitalisierung spricht, dann lässt sich diese in einer langen Entwicklung der Wirtschaft begreifen, die sich in Wellen vollzieht. Angefangen bei der industriellen Revolution über die Automatisierung, das Computerzeitalter bis zur Internet Economy. Aus unserer Sicht ist die Sinnwirtschaft der nächste Entwicklungsschritt und der New Mittelstand unser Idealbild dafür. Im Vergleich zur Internet Economy, die sehr schnelllebig ist, bringen viele Mittelständler ideale Voraussetzungen mit, um schnell in die Sinnwirtschaft einzusteigen. Diese wird sehr viel regionaler und nachhaltiger sein. In Zukunft wird sehr viel stärker gefragt werden, ob eine Wertschöpfungskette wirklich Sinn ergibt. Da braucht sich der New Mittelstand schon heute vor den Start-ups, die vor allem auf Wachstum ausgerichtet sind, nicht zu verstecken.

Warum muss sich der Mittelstand überhaupt verändern? Ist der Mittelstand akut in Gefahr?

Aileen Moeck: Es gibt zum einen die größeren wirtschaftlichen Entwicklungen wie Digitalisierung und Klimawandel. Auch Umfeld und Regularien ändern sich drastisch, da werden Unternehmen schnell irrelevant. Dann kommt eine neue Generation von Konsumenten und von Mitarbeitern. Da braucht es neue Wege der Ansprache. Schließlich gibt es noch die radikalen Innovationen von Leuten wie Elon Musk, die ganze Sektoren bedrohen können.

Evgeni Kouris: Die deutsche Wirtschaft ist zudem im Bereich der Industrie stark positioniert. Wenn es in den vergangenen Jahrzehnten um Innovationen ging, dann um solche, die mit dem Physischen zu tun haben. In Zukunft geht der Trend aber zur Software. Auch beim Physikalischen ändert sich viel: Lithium, das etwa für die Elektromobilität gebraucht wird, gibt es hierzulande nicht. Der radikale Umschwung in diesem Bereich ist für viele bedrohlich. Auch die Konsumgewohnheiten ändern sich, und andere Dinge werden nachgefragt. Corona hat gezeigt, wie schnell wir unsere Gewohnheiten ändern können. Insgesamt werden die Zeiträume solcher Veränderungen kürzer. So schnell können Nachfolger gar nicht nachkommen, die im Mittelstand bislang die Kulturveränderung hineingebracht haben. In Zukunft gilt für alle Unternehmen die Devise: „Innovate or Die“.

Aileen Moeck: Viele Mittelständler müssen aus der eigenen Bequemlichkeit raus. Sie sagen: „Uns gab es schon immer“ – und gehen davon aus, dass das auch so bleiben wird.

Inwiefern kann New Mittelstand eine Antwort auf den Fachkräftemangel bieten?

Aileen Moeck: Einerseits haben wir die Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter bzw. Fachkräfte aus dem Bereich Hightech, die eher zu den Konzernen oder Start-ups gehen. Darüber hinaus beschreiten immer weniger Leute den Weg der dualen Ausbildung oder verfolgen ein Handwerk, weil immer weniger Unternehmen die Möglichkeit dazu anbieten. Da setzen wir an, indem wir neue Perspektiven für den Mittelstand schaffen und zeigen, dass es neue Geschäfts- und Entwicklungsfelder gibt.

Evgeni Kouris: Wenn es um den Fachkräftemangel und Lösungen dafür geht, sehen wir noch viel Potenzial. Employer Branding ist eine häufige Ursache für das Problem. Denn die Talente sind da. Aber sie sehen die Familienunternehmer oft nicht als spannende potenzielle Arbeitgeber an. In der Wahrnehmung bleibt das Image von den traditionellen Unternehmen hängen, die häufig auf dem Land sind. Das liegt zum Teil daran, dass sie nicht gut genug kommunizieren, was sie wirklich machen. Das Problem der Hidden Champions ist, dass sie eben „hidden“ und damit oft unbekannt sind und dadurch die Talente nicht bekommen.

Zur Person

Evgeni Kouris
Evgeni Kouris ist Unternehmer und versteht sich als Brückenbauer zwischen Technik und Kunst, zwischen Ost und West sowie zwischen Start-ups und dem Mittelstand. Am Anfang seiner beruflichen Karriere stand der Traum, seine Begeisterung für Technologie mit seiner Leidenschaft für Musik zu verbinden. Dabei führte ihn sein Weg als Teil der Band Timid Tiger in die Musikbranche, in die Welt der Unternehmensberatung sowie als Gründer der Start-ups Toywheel und Gamewheel in die Gründerszene.

Aileen Moeck
Aileen Moeck ist Zukunftsforscherin und Expertin für Innovation und Transformation. Neben der Organisationsberatung hat sie als Bildungsaktivistin die gemeinnützige Bildungsinitiative „Die Zukunftsbauer“ gegründet. Für ihr Engagement, Zukunftsdenken an Schulen zu bringen, wurde sie 2018 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Wissenschaftsjahres „Arbeitswelten der Zukunft“ ausgezeichnet. Ihren hier entwickelten Zukunftsgestaltungsansatz durfte sie 2019 auch als Botschafterin für Futures Literacy bei der UNESCO in Paris vorstellen. 2021 war sie Botschafterin für New Mittelstand.