06.07.2022 - Maria Zeitler -8 MinutenRichtig führen
Zwei Tage im Büro und drei Tage im Homeoffice ist mittlerweile Arbeitsalltag in vielen Unternehmen. Wie aber kann man Nachwuchskräfte erfolgreich an Bord holen, wenn die Ansprechpartner:innen nicht jeden Tag vor Ort sind? Preboarding, neue digitale Formate und viel Beziehungsarbeit sind der Schlüssel zum Erfolg.
Das Recruiting war erfolgreich, die neuen Azubis haben ihre Verträge unterschrieben – aber bis zum Start der Ausbildung herrscht in den meisten Unternehmen Funkstille. Mit fatalen Folgen: Für das Jahr 2020 ermittelte das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), dass rund jeder vierte Ausbildungsvertrag gelöst wurde, die meisten noch vor oder früh in der Ausbildung. Die Gründe laut BIBB: Den Azubis fehlt es an Wertschätzung, oder die Erwartungen an Betrieb und Ausbildung wurden enttäuscht. Die Zahlen dürften in Zukunft nicht sinken: Auszubildenden in einer hybriden Arbeitswelt schon vor oder zu Beginn der Ausbildung ein Gefühl der Wertschätzung und Zugehörigkeit zu vermitteln, wird viel schwieriger als in rein analogen Zeiten der Einarbeitung.
Preboarding: Azubis schon vor dem ersten Tag mitnehmen
Bei der Versicherungsgesellschaft R+V ist man sich dieser Herausforderung bewusst: „Nach der Unterschrift bleiben wir in Kontakt, schicken beispielsweise die Unternehmenszeitschrift nach Hause, senden eine Weihnachtskarte oder ein Osterpäckchen“, sagt Anne Wilkens. Als es eine Tariferhöhung gab, war das ein guter Anlass für eine E-Mail. So konnten sich die Nachwuchskräfte schon vor Ausbildungsbeginn über eine Gehaltserhöhung freuen. Wilkens ist Fachkoordinatorin der Erstausbildung und verantwortlich für Betreuung und Onboarding der Kaufleute für Versicherungen und Finanzen am Standort Hannover. Dabei gebe es im Preboarding keine „Liste zum Abarbeiten“ von Kontaktanlässen, sondern es werde immer individuell geschaut, was gerade passt. Diese wertschätzenden Maßnahmen halfen auch schon in analogen Zeiten, doch jetzt sind sie noch wichtiger, da die ersten Tage und Wochen mit Arbeiten von zu Hause, digitalen Meetings und Ausbilder:innen im Homeoffice die Bindung erschweren und die Erwartungen viel öfter enttäuschen.
Den Plan, früh in die „Beziehungsarbeit“ einzusteigen, findet deshalb auch Zuzana Blazek gut. Sie ist HR-Expertin im Projekt „Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung – KOFA“ und Forscherin am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln und sagt: „Am ersten Arbeitstag muss der Mitarbeiter schon das Gefühl haben: Ich gehöre dazu.“ Auch wenn jetzt wieder viele Unternehmen den ersten Azubi-Tag in Präsenz veranstalten, sind aufgrund des hybriden Modells nicht alle Teamkolleg:innen vor Ort. „Warum nicht direkt nach Vertragsunterschrift dem neuen Azubi in Form einer Mappe oder hinterlegt mit einem Link alle relevanten Personen vorstellen? Mit Foto und ein paar eigenen Worten zu Beruflichem und Privatem. Dann hat der Azubi am ersten Tag direkt das Gefühl: Ich kenne die ja schon alle.“
Mehr Zeit für die Beziehungspflege
Damit ist es aber nicht getan, denn jetzt geht das hybride Onboarding erst richtig los. Bei R+V sind nicht nur Betreuer:innen manchmal im Homeoffice, auch für alle Nachwuchskräfte im Innendienst, inklusive der 172 Auszubildenden, gilt das „Balance-Modell“: zwei Tage im Büro, drei Tage im Homeoffice – oder umgekehrt. „Wenn man in der hybriden Variante onboardet, muss man viel mehr und bewusster Zeit für die Beziehungspflege einbauen, die früher einfach so zwischendurch mitgelaufen ist“, sagt Amelie Fischer, Expertin für die Erstausbildung bei R+V. Sie hat in der Corona-Phase das Onboarding der Trainees betreut. Kontakt ist alles, sagt sie: „Vor allem an den ersten Homeoffice-Tagen sitzen die Nachwuchskräfte nicht den ganzen Tag allein vor dem Rechner. Sie sind 99 Prozent der Zeit mit den anderen Azubis und Ausbildern zusammen, machen eine Morgenrunde, essen virtuell gemeinsam zu Mittag. Es ist wie ein Präsenztag – nur dass sie dabei zu Hause in der Videokonferenz sitzen“, sagt Fischer.
Neue Ansätze für Videomeetings
In den „digitalen Räumen“ gibt es bei R+V ein weiteres Tool: „Wir haben in vielen Veranstaltungen auch ein offenes Ende oder einen offenen Anfang. Bei Letzterem kommt man zum Beispiel 15 Minuten vor dem Meeting in den Raum“, sagt Anne Wilkens. Man hole sich noch mal Kaffee, halte Small Talk wie bei analogen Besprechungen auch. „Das ist ganz oft der Raum, in dem sich auch neue Nachwuchskräfte trauen, Kollegen anzusprechen oder auch nach dem Meeting noch Fragen zum besprochenen Thema zu stellen“, sagt sie. Da extrem niederschwellig zu arbeiten, hält auch HR-Expertin Zuzana Blazek für sehr wichtig: In den digitalen Meetings gelte es, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich auch jede/-r Azubi etwas zu sagen traut. „Man kann das am Anfang auch spielerisch machen: Alle schalten ihre Kameras aus. Der Moderator fordert dann unterschiedliche Gruppen auf, die Kamera einzuschalten. Zum Beispiel: ,Jetzt machen alle die Kamera an, die heute morgen Müsli gegessen haben. Und jetzt alle, die heute schon Sport gemacht haben.‘ So kommen sie zu Wort, sind Teil des Teams und werden gesehen, ohne dass sie sich gleich trauen müssen, erst mal fünf Minuten vor allen von sich zu erzählen.“
Sie rät, auch im digitalen Raum neben den Fachgesprächen so viel sozialen Austausch wie möglich zu realisieren. Bei der Versicherungsgesellschaft passiert das in einem Teamtag am Mittwoch und in zweitägigen Klausuren in Präsenz, an denen auch die Azubis teilnehmen. An sich gebe es wenige Tage, in denen die Azubis nicht in Meetings zu speziellen Themen dabei sind, mehr, als es vielleicht vor der hybriden Arbeitsweise der Fall gewesen wäre.
Erklären, was zwischen den Zeilen steht
Was jedoch leicht auf der Strecke bleibt und im analogen Onboarding einfach so nebenher funktionierte, ist das Kennenlernen der Unternehmenskultur in den ersten Wochen und Monaten. „Was man vor Ort im Büro einfach spürt, muss im digitalen Raum explizit besprochen werden: Es muss eine Transparenz geben, wer was macht, wie die Hierarchien sind, welches Verhalten üblich ist, wie Zusammenarbeit in diesem Team gelebt wird. Das gibt den jungen Berufsanfängern Orientierung“, sagt HR-Expertin Blazek. Auch Arbeitsabläufe sollte man den neuen Kolleg:innen gegenüber sichtbar machen und öfter mal den Bildschirm teilen, um das Über-die-Schulter-Schauen aus dem Büro zu simulieren.
Nicht zuletzt helfen digitale Tools beim hybriden Onboarding. Eine Learn-Management-Plattform oder eine Azubi-App können helfen, ein Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen. Einige Unternehmen haben bereits die Mobile Employee App (MEA) der plazz AG aus Erfurt genutzt: „Die Azubis können am oder schon vor dem ersten Tag eine App bekommen, in der sie alle wichtigen Infos finden. Von der Klamottenfrage über einen Kalender mit allen Workshops, Corporate Guidelines, Social-Media-Richtlinien bis hin zur Vernetzung und dem Chat mit Azubis und Betreuern“, erklärt Vertriebsleiter Stephan Rode. Ansprechpartner aus verschiedenen Abteilungen können per App direkt angeschrieben werden – auch wenn sie gerade im Homeoffice sitzen. „Auch für Jobs, in denen die Azubis nicht ständig am eigenen Laptop sitzen, bringt eine App das Unternehmen auf das private Smartphone, sodass die Azubis das Angebot immer mit sich herumtragen und von der Werkbank aus Kontakt zum Betreuer haben.“ Seit 2021 verzeichnet das Team um Rode steigendes Interesse: „Manche Unternehmen nutzen die App auch schon zum Preboarding, um die Gruppe der Azubis zusammenzubringen, zu vernetzen, aber auch News aus dem Headquarter zu teilen. Und dann kommt eine Pushnachricht Ende August: ‚Wir freuen uns auf dich.‘“
Hybrides Arbeiten als Lerninhalt der Ausbildung
Die digitalen Anwendungen haben viele Vorteile, wenn es um das Onboarding in der hybriden Arbeitswelt geht. Laut Anne Wilkens sollte man jedoch gerade bei Azubis ganz genau hinschauen: „Es ist wichtig, an den Leuten dranzubleiben, denn remote ist es viel leichter, sich zu verstecken. Man muss viel schneller in Einzelgespräche gehen, wenn man ‚so ein Gefühl‘ hat. Nachwuchskräfte sollte man auch immer motivieren, die Kamera anzuschalten, um ‚gesehen‘ zu werden“, sagt sie. Viel Arbeit für die Personaler also, die es aus ihrer Sicht aber absolut wert ist. „Die Azubis und Studierenden werden bei uns weiter hybrid arbeiten, schließlich ist es unsere Verpflichtung, den jungen Leuten mitzugeben, wie sie sich sicher in dieser neuen Arbeitswelt bewegen. Das gehört für uns einfach heutzutage zu den Inhalten einer Ausbildung dazu.“