Ein Tag in der Praxis: Betriebspraktikum mal anders

In Nordthüringen gibt es in der Schule statt eines Blockpraktikums ein Jahr lang wöchentliche Praxistage. Im Februar wurde das Netzwerk Tag in der Praxis mit dem Deutschen Fachkräftepreis 2025 ausgezeichnet.


18.03.2025 - Matthias Haft -5 MinutenMitarbeiter finden

Eine Initiative verschiedener Netzwerkpartner hat in den nordthüringischen Kreisen das obligatorische Schulpraktikum völlig neu gedacht: Fast schon eine Revolution in der Berufsorientierung. Was Unternehmen von dem Tag in der Praxis haben und welche positiven Effekte auf den Ausbildungsmarkt der Region sich schon jetzt zeigen, hat Faktor A für Sie zusammengestellt.

Betriebspraktika sind eine feste Größe im deutschen Bildungssystem. Schülerinnen und Schüler der 8. bis 11. Klasse suchen sich ein Unternehmen in ihrer Region aus und absolvieren dort für zwei bis drei Wochen ein Praktikum, bei dem sie einen oder mehrere Berufe des Betriebs kennenlernen. Das Praktikum ist ein wichtiger Baustein in der Berufsorientierung. Doch es gibt Haken. Der Einblick, den Jugendliche dabei bekommen, ist begrenzt, und ob er am Ende die Berufswahl entscheidend erleichtert, zumindest fraglich. 
Die Betriebe auf der anderen Seite haben einen recht hohen Aufwand, da sie die Anforderungen der Schulen, von denen sie Praktikantinnen und Praktikanten erhalten, individuell abklären und umsetzen müssen. Und da nicht ausgemacht ist, dass sich junge Menschen nach einem kurzen einmaligen Praktikum auch für den Betrieb entscheiden, kann es eben sein, dass die Rekrutierungsmaßnahme Betriebspraktikum ins Leere läuft.

So funktioniert der Tag in der Praxis

Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Nordthüringen. Dort wird an vielen weiterführenden Schulen der vier Landkreise Nordhausen, Eichsfeld, Unstrut-Hainich-Kreis und Kyffhäuserkreis der Tag in der Praxis angeboten. Anstatt zwei, drei Wochen Blockpraktikum heißt es hier für ein gesamtes Jahr ein Tag in der Woche Praktikum. Der Praxistag findet vom zweiten Halbjahr der 8. Klasse bis zum Ende des ersten Halbjahrs der 9. Klasse statt. In diesem Zeitraum können die Jugendlichen in bis zu vier Betriebe hineinschnuppern. Sie lernen auf diese Weise in einem Jahr verschiedene Berufe und Unternehmen kennen. Die Idee konnte auch die Jury des Deutschen Fachkräftepreises überzeugen: Im Februar wurde der Tag in der Praxis in der Kategorie Innovatives Netzwerk mit dem Fachkräftepreis ausgezeichnet.

Das erklärte Ziel des Projekts ist es, junge Menschen in Ihrer Berufsorientierung zu unterstützen, sodass sie am Ende der Schulzeit eine fundiertere Entscheidung für einen Beruf treffen können. Junge Menschen, die mehrere Betriebe kennenlernen und verschiedene Tätigkeiten ausprobieren konnten, können aus einem breiteren Erfahrungsschatz schöpfen. Sie können Berufsideen verwerfen – bevor Sie in die Ausbildung starten. Gleichzeitig festigt der Vergleich mit anderen, weniger geeigneten Berufen die Entscheidung für einen Wunschberuf.

Der Tag in der Praxis ist 2022 aus einem gemeinsamen Pilotprojekt von Schulamt, IHK Erfurt, den beiden Kreishandwerkerschaften und der Agentur für Arbeit Thüringen Nord hervorgegangen. Damals hatten drei Schulen teilgenommen, mittlerweile sind es 28. Neben dem Deutschen Fachkräftepreis hat das Netzwerk auch andere Auszeichnungen erhalten, so etwa den Schulewirtschaft Preis 2023.

So profitieren Betriebe vom Tag in der Praxis

Die intensivere Beschäftigung mit der Berufswahl nützt am Ende nicht nur den jungen Ausbildungseinsteigerinnen und -einsteigern, sondern auch den Betrieben und sogar der Region. Karsten Froböse, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Thüringen Nord, dazu: „Wir wollen mehr abgeschlossene Ausbildungsverträge und weniger Ausbildungsabbrüche. Dafür müssen die jungen Leute genauer wissen, in welchen Betrieb sie gehen und welchen Beruf sie erlernen.“ Der Wunsch scheint sich zu erfüllen: Im Jahr 2023 wurden in den Landkreisen Eichsfeld und Nordhausen 5,9 bzw. 17,2 Prozent mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen. 2024 blieben die Zahlen auf neuem Niveau stabil.

Porträtaufnahme von Karsten Froböse
Bild: Karsten Froböse

Die Betriebe in den vier thüringischen Landkreisen konnten sich also über mehr Auszubildende freuen. Ob der Tag in der Praxis auch langfristig zu einer verbesserten Situation bei den Nachwuchskräften in der Region führt, wird sich zeigen.

Weniger Aufwand, mehr Auswahl

Karsten Froböse weist auf weitere Vorteile für die Arbeitgeber in seiner Region hin. So würden diese von einer deutlichen Kostensenkung bei ihren Maßnahmen rund um das Betriebspraktikum profitieren können, da sie unter anderem nicht mit jeder Schule einzeln Vereinbarungen treffen müssen. „Wir als Verbund organisieren alles und das Unternehmen muss nur sagen: Ich mach mit“, sagt er. Außerdem werden beim Tag in der Praxis Messen in den Schulen organisiert, auf denen Unternehmen sich und ihre Praktikumsmöglichkeiten vorstellen können. Betriebe können so auf einen Schlag viele potentielle Praktikantinnen und Praktikanten kennenlernen.

Ein Erfolg mit Vorbildcharakter

Der Tag in der Praxis macht Schule. Nachdem die Thüringer Landesstrategie zur Berufsorientierung 2024 geändert wurde, ist nun eine thüringenweite Einführung des Tags in der Praxis möglich. Weitere Kreise in anderen Teilen Thüringens ziehen seitdem nach. Außerdem wird daran gearbeitet, wie der Tag in der Praxis auch für Schülerinnen und Schüler der Gymnasien umgesetzt werden kann.  

Drei Fragen an Karsten Froböse und Franka Hitzing

Karsten Froböse, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Thüringen Nord, und Franka Hitzing, Referentin des Staatlichen Schulamts Nordthüringen, erklären, wieso der Tag in der Praxis eingeführt wurde, was er für die schulische Bildung bringt und ob er als Modell für andere Bundesländer taugen kann.

Faktor A: Was war der Anlass für Sie und die anderen Mit-Initiatoren, das bestehende Schulpraktikumssystem zu überarbeiten?

Karsten Froböse: Die betriebliche Ausbildung ist der wichtigste Schlüssel zur Fachkräftesicherung. Wir wollen die duale Ausbildung durch eine konsequente, nachhaltige und praxisnahe Berufsorientierung in Unternehmen stärken. Deshalb haben wir gemeinsam mit den Kammern vor Ort und dem Staatlichen Schulamt Nordthüringen beschlossen, Gutes aus der Vergangenheit aufzugreifen und an die heutige Arbeits- und Lebenswelt anpassen. Mit dem Tag in der Praxis ermöglichen wir jungen Menschen eine kontinuierlichere berufliche Orientierung über ein gesamtes Schuljahr hinweg. Das trägt dazu bei, dass junge Menschen zunehmend für ihre Berufsbildung in der Region bleiben. Wir haben in der Vergangenheit sehr viele junge Leute an andere Regionen verloren. Deshalb ist es uns wichtig, dass die Schüler*innen heute wissen, was in den Betrieben hier vor Ort Gutes gemacht wird und welche Chancen sie hier haben.
                                             
Faktor A: Wie geht die Initiative mit den zusätzlichen Schulfehlzeiten um?

Franka Hitzing: TIP bedeutet „Lernen am anderen Ort“. Es ist eine neue Art der beruflichen Orientierung, die es den Schülern ermöglicht, einen umfänglichen Einblick in die praktische Arbeitswelt zu erhalten. Sie bewerben sich im Laufe eines Jahres auf vier verschiedene Berufsfelder und lernen diese kennen. Durch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit praktischen Arbeitsabläufen und der Zusammenarbeit mit Kollegen lernen die Schüler über ihr Schulwissen hinaus das Leben kennen. Sie verstehen, dass schulisches Wissen und praktische Erfahrungen eine Einheit bilden und den Grundstein für ihr zukünftiges Leben legen. Das Lernen am anderen Ort stellt eine "Übernützlichkeit" her, die den Schülern auf praktische Weise ermöglicht, schulisches Wissen mit dem realen Leben zu verknüpfen.
Für mich ist TIP die optimale berufliche Orientierung und entspricht den Anforderungen einer modernen allumfassenden Ausbildung der jungen Menschen im Zusammenspiel mit der schulischen Bildung.

Faktor A: Sehen Sie den Tag in der Praxis als ein Modell, das bundesweit Schule machen könnte?

Karsten Froböse: Dass das Modell auch außerhalb Thüringens erfolgreich sein kann, daran haben wir keine Zweifel. Unsere gesammelten Erfahrungen stellen wir allen Interessierten zur Verfügung. Dafür bieten wir ein Projekthandbuch auf unserer Website an. Wir stehen darüber hinaus auch gern für den persönlichen Austausch zur Verfügung.


Titelbild: ©AdobeStock/Robert Kneschke