Flexible Arbeitsmodelle locken gutes Personal

Wer flexibles Arbeiten anbietet, kann auf einen größeren Pool an Talenten zugreifen. Drei Unternehmer berichten, worauf man dabei achten sollte.


18.08.2021 - Maria Zeitler -7 MinutenArbeitswelt gestalten

Der Fachkräftemangel stellt nicht nur den Mittelstand vor Herausforderungen. Wer auf Arbeitsmodelle unabhängig von Ort und Zeit setzt, kann auf einen größeren Pool an Talenten zugreifen – und sie binden. Damit das flexible Zusammenarbeiten gelingt, müssen Unternehmen einiges beachten.

Junger Mann Philip Harms
© Afilio - Philip Harms

„Remote-freundlich: Unser Büro liegt im Herzen des Prenzlauer Bergs. Ob Du es nutzt oder nicht, liegt ganz bei Dir“, heißt es auf der Karriereseite der Vorsorgeplattform Afilio. Flexible Arbeitszeiten und Homeoffice ist bei dem Start-up aus Berlin nicht erst seit Corona ganz tief verankert. Doch mehr noch: Das Unternehmen beginnt gerade, einzelne Stellen völlig ortsunabhängig auszuschreiben: „Im Vergleich zu vorherigen Ausschreibungen für genau diese Position erhielten wir nicht nur ein Vielfaches an Bewerbungen: Wir hatten vor allem deutlich besser qualifizierte Kandidatinnen und Kandidaten. Die Möglichkeit, auch aus anderen Teilen Deutschlands flexibel von zu Hause aus für Afilio zu arbeiten, erweitert das Feld an richtig guten Bewerberinnen und Bewerbern für uns enorm“, sagt Gründer Philip Harms.

Mitarbeiter wünschen sich Flexibilität – wer sie bietet, bekommt die Talente

In Zeiten des Fachkräftemangels empfiehlt es sich, auf flexible Arbeitsmodelle zu setzen, denn orts- und zeitunabhängiges Arbeiten steht mit ganz oben auf deren Wunschzettel: In einer repräsentativen Umfrage des Jobportals Indeed gaben drei Viertel an, flexible Arbeitszeiten oder Arbeitsorte für wichtig zu halten – doch nur 30 Prozent der Befragten hatten tatsächlich die Möglichkeit von Vertrauensarbeitszeit und -ort. Ein Potenzial, das es nun auszuschöpfen gilt, besonders für Unternehmen mit Standortnachteilen oder besonders hart umkämpften Fachkräften.

Auch das ifo Institut sagt: „Außerdem könnte die Beseitigung der räumlichen Entfernung als limitierender Faktor das Matching von Jobsuchenden und Arbeitgebern verbessern, also die Chance des Zueinanderfindens steigern.“ Darauf sind Unternehmen angewiesen, wenn sie in den nächsten Jahren die besten Fachkräfte gewinnen wollen: Laut einer Studie, die unter anderem der Bundesverband der Volks- und Raiffeisenbanken in Auftrag gab, bereitet der Fachkräftemangel im Juni 2021 rund 73 Prozent der Mittelständler Probleme – sechs Monate zuvor waren es noch 67 Prozent. Bezeichnend: Der Wert ist um die zehn Prozent höher als jener bei der Frage nach Befürchtungen vor wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise.

Fachkräfte können jetzt von überallher kommen

Auch Jan Ollig sieht für Unternehmen eine riesige Chance darin, nach der Pandemie flexibles Arbeiten anzubieten: „Durch Corona hat das Ganze einen massiven temporären Schub bekommen, die Leute wollen weiter so arbeiten und nicht zu hundert Prozent zurück ins Büro“, sagt der Gründer und Geschäftsführer der Jobplattform New Work Life. Zusammen mit seiner Partnerin hat er diese im Jahr 2019 gegründet, da beide nach einem remote Job in Festanstellung gesucht haben. Doch außer internationalen Börsen fanden sie nichts – und für US-Arbeitgeber zu arbeiten, war wegen fehlender Sozial- und Rentenversicherungsleistungen unattraktiv.

Mann Jan Ollig
© Jade Shearstone - Jan Ollig

Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet: Aktuell bieten verschiedene deutsche Unternehmen insgesamt etwas mehr als 1.000 remote Jobs auf der Plattform an, und seit Beginn der Pandemie ist der Traffic um 130 Prozent gestiegen. „Talente können nun von überallher kommen“, sagt Ollig. „Viele gut qualifizierte Fachkräfte sitzen in Berlin. Also war es für ein Tech-Unternehmen in Buxtehude früher so: Ich kann die guten Leute in der Nähe holen, muss aber für alle anderen Positionen B-Lösungen nehmen. Heute kann ich alle Stellen mit Eins-a-Leuten besetzen, auch wenn die nicht aus Berlin wegwollen.“

Auch viele Leute mit Kindern, die in Teilzeit arbeiten wollen, könnten den Unternehmen dadurch künftig wieder zur Verfügung stehen: „Sie wollen vier Stunden arbeiten, kamen aber mit der Hin- und Rückfahrt auf fünf bis sechs Stunden, das war vielen zu stressig“, sagt Jan Ollig. „Das ist ein großes Potenzial, das da für den Arbeitsmarkt schlummert.“ Bei den Unternehmen, die er neben der Jobbörse auch zum Thema Remote berät, stellt er oft noch eine diffuse Angst fest, vor allem vor dem vermeintlichen Kontrollverlust.

Remote Work sorgt auch für Mitarbeiterbindung

Diese diffuse Angst ist Anja Schirwinski vollkommen fremd. Sie ist Mitgründerin und -geschäftsführerin von undpaul“, einer Agentur für Publishing-Plattformen und Content-Marketing. Seit der Gründung 2010 arbeitet das Unternehmen ausschließlich remote. Der Grund: Die Mitarbeiter entwickeln Webseiten mit dem Content-Management-System Drupal. „Das war nicht so verbreitet, es gab schlicht nicht so viele Entwickler, die das konnten. Ein paar von uns waren und sind in Hannover – aber die Leute, die sich damit auskennen, wohnen nicht in Hannover und wollen auch nicht in Hannover wohnen. Wie soll ich sonst zehn Spezialisten finden?“

Aktuell sitzen sie über Deutschland verteilt – der südlichste in Rosenheim, der nördlichste in Ganderkesee bei Bremen. Mit dem Modell nach außen gehen und Leute anwerben könnte Schirwinski, muss sie aber nicht. Das Remote-Modell, das zusätzlich noch flexible Arbeitseinteilung – morgens den Einkauf erledigen und eine Runde schwimmen, dafür abends arbeiten – bietet, hat nämlich noch einen weiteren großen Vorteil: Mitarbeiterbindung. Bei undpaul gibt es kaum Fluktuation.

Auch ein höheres Gehalt, das wohl vielen der IT-Experten bei anderen Unternehmen winken könnte, bereitet der Geschäftsführerin von undpaul keine Sorgen: „Wir bezahlen sicher nicht so gut, wie die Leute anderswo bezahlt werden würden, aber für viele ist remote, aber vor allem einfach die flexible Arbeitszeit der entscheidende Punkt“, sagt Anja Schirwinski. Sie stelle einfach fest, dass die Lebensqualität für immer mehr Leute in der Prioritätenliste vor dem Gehalt angesiedelt ist: „Wenn du wohnen kannst, wo du willst, und es muss nicht in der teuren Großstadt sein, oder wenn du kein Auto brauchst, dann kannst du auch weniger verdienen“, sagt sie. Den Vätern im Team sei es beispielsweise wichtig, durch das flexible Arbeitsmodell mehr mit den Kindern machen zu können als der Durchschnitt: zwischen den Terminen zum Babyschwimmen zu gehen oder die Kinder von der Schule abzuholen.

Neue Führung ist gefragt

Anja Schirwinski Frau kurze braune Haare
© Hand und Jung - Anja Schirwinski

Bei all den Vorteilen von flexiblen Arbeitsmodellen und Remote Work ist jedoch ein weiterer Aspekt wichtig, damit es funktioniert und die Mitarbeiter wirklich langfristig bleiben: Next Leadership. Also neue Führung, die Kontrolle abgibt. Anja Schirwinski sagt: „Man braucht Vertrauen zu den Leuten, aber wir stehen ja im regen Austausch, auch wenn wir uns nicht sehen. Wir haben jeden Morgen Dailys zu Projekten und besprechen einmal in der Woche Highlights und Lowlights. Wenn jemand erreichbar ist und seine Arbeit schafft, ist alles okay.“ Sie sagt sogar: „Man muss sich nie persönlich begegnet sein, um erfolgreich zusammenzuarbeiten.“

Wer sich Sorgen macht, dass Mitarbeiter im Homeoffice nichts arbeiten, hat laut Jan Ollig von New Work Life ein viel grundsätzlicheres Problem: „Wenn der Job so ausgelegt ist, dass ich während der Arbeitszeit lieber Netflix schaue, dann läuft da sowieso irgendwas falsch. Alle anderen sollten sich eher Sorgen machen, ob die Mitarbeiter nicht zu viel arbeiten“, sagt er.

Flexible Arbeitsmodelle: Kommunikation muss expliziter werden

Junge Frau mit Brille Alexandra Lechner
© Afilio - Alexandra Lechner

Auch bei der Vorsorgeplattform Afilio hat man mit remote arbeitenden Kollegen und völlig flexibler Arbeitseinteilung nur gute Erfahrungen gemacht. Alexandra Lechner, die bei Afilio für den Bereich People & Culture zuständig ist, sagt: „Der Schlüssel ist die Kommunikation. Die muss man bewusster angehen und expliziter und häufiger kommunizieren. Denn ungeschriebene Teamregeln, die man früher einfach so mitbekommen hat, kann man nicht mehr spüren.“

Jede Woche Montagmorgen ein „Stand-up-Meeting“ (Treffen im Stehen, zur effizienten Kommunikation über anliegende Aufgaben), am Mittwochnachmittag eine Breakout-Session (ein Teil einer größeren Gruppe oder Abteilung trifft sich virtuell, um einen konkreten Aspekt eines Themas zu bearbeiten) und ein Donut Coffee Chat bei Slack (ein Bot organisiert digitale Treffen zwischen Teammitgliedern) sind nur ein paar der Elemente, die sie dafür einsetzt. Und manchmal, sagt sie, bringen Homeoffice und Remote Work uns einen Vorteil und eine Nähe, die wir im Büro nie erreichen würden: „Auch der Chef trägt mal Freizeitkleidung, auch bei ihm läuft mal das Kind durchs Bild, oder er nimmt den Anruf auf dem Weg zum Einkaufen an. Er ist auch nur ein Mensch.“

New Work im eigenem Unternehmen

Die Frage nach dem Warum
„Jedes Unternehmen muss sich fragen: Was oder wen will ich haben?“, sagt Jan Ollig von New Work Life. Nach der Motivation für das jeweilige Arbeitsmodell zu fragen, sei zentral. „Warum will der Mitarbeiter remote arbeiten? Will er im Winter mal fünf Monate auf Gran Canaria arbeiten oder ein halbes Jahr auf Weltreise gehen?“ Während Ersteres meist kein Problem darstellt, kann Zweiteres mit Reisezeiten und Zeitverschiebung recht stressig für das Unternehmen werden. Genauso müsse man aber nach der Motivation fragen, wenn Leute gern wieder ausschließlich ins Büro wollen: „Es kann um kreative Zusammenarbeit mit Kollegen gehen, aber auch um Klatsch und Tratsch – also Anwesenheit zu zeigen, während aber nichts Produktives geleistet wird“, sagt Ollig.

Serie New Work

Längst wird das Konzept New Work in traditionellen Betrieben in Mittelstand und Handwerk umgesetzt. In unserer Serie zeigen wir, was das Konzept beinhaltet und wie es kleine und mittlere Betriebe unterschiedlicher Branchen umsetzen.

Teil 1 | Home statt Office, Vertrauen statt Kontrolle – was heißt New Work?

Teil 2 | Sprinkenhof GmbH: wie ein öffentliches Unternehmen zum attraktiven Arbeitgeber wird

Teil 3 | Afilio, undpaul, New Work Life: mit flexiblen Arbeitsmodellen gutes Personal anlocken

Teil 4 | Glasmanufaktur Heiler: New Work im Handwerk